Vor ein paar Jahren wollte ich unbedingt eine Nische für mich finden. Ein kleines, feines Fachgebiet. Ich übersetzte damals schon regelmäßig Werbetexte über Schmuck und Uhren. Da Deutschland aber in diesem Gebiet nicht gerade Exportland Nummer eins ist, sah ich meine Chancen, meinen Kundenstamm darin zu erweitern, als eher gering.
Ich war fest entschlossen, Chris Durbans Ratschläge in The Prosperous Translator umzusetzen − nämlich: Suche dir ein Fachgebiet, werde richtig gut darin, gehe auf Messen und unterhalte dich mit Fachleuten auf Augenhöhe. Nur was für ein Fachgebiet sollte das sein?
Eines Tages unterhielt ich mich auf einer BDÜ-Veranstaltung mit Caterina Saccani. Diese italienische Kollegin war damals zwar erst frisch in die Selbstständigkeit gestartet, konnte aber schon von einigen Besuchen auf Fachmessen berichten und hatte ein gut eingegrenztes Fachgebiet, nämlich ökologische Lebensmittel und Produkte sowie Naturkosmetik.
Ich hab‘s, dachte ich. Mein kleines feines Fachgebiet. Nicht zu technisch. Nicht zu trocken. Als Exportland für Bioprodukte steht Deutschland ganz oben und in Spanien ist die Nachfrage wirklich groß.
Gleich am nächsten Tag holte ich mir beim Reformhaus um die Ecke ein paar Zeitschriften. Ich abonnierte mehrere Newsletter von spanischen Marken, um mich in die Fachsprache einzulesen. Nach einigen Vorbereitungen flog ich voller Elan zu einer Biomesse in Barcelona, um ein Gespür für die Branche zu entwickeln.
Dort klapperte ich alle deutschen Aussteller ab, verteilte und sammelte fleißig Visitenkarten. Wieder zu Hause hatte ich fest vor, alle gesammelten Infos zu ordnen, Glossare zu erstellen und auch auswendig zu lernen, um nächstes Mal richtig mitreden zu können. Dazu kam ich aber nie ...
Die Fachschriften und die Prospekte blieben ungelesen, die Newsletter sammelten sich ungeöffnet, mir fiel keine einzige brauchbare Idee für einen Blogbeitrag ein, die gewonnenen Kontakte ließ ich einschlafen. Ich sah es nicht, mich jemals auf einer Messe über Getreidesorten und Power Food fundiert unterhalten zu können. Ich fand das Thema nach wie vor interessant, aber ich brannte nicht dafür. Das war nicht ich.
Ich übersetzte trotzdem munter weiter - ein Schmuckkatalog hier, eine Pressemitteilung über Uhren da, ein Mailing mit Geschenkideen für den Muttertag, die Präsentation eines neuen Parfums ... Immer wieder in Begleitung eines schlechten Gewissens, ich müsste mich doch endlich auf einem Gebiet festlegen ...
Ich spielte kurz mit dem Gedanken, mich ausschließlich auf Luxusprodukte zu spezialisieren, so wie eine andere italienische Kollegin. Die Idee verwarf ich ganz schnell wieder. Mich je fundiert über die letzten Schmuck- und Uhrentrends auf einer Fachmesse unterhalten? Das konnte ich mir genau so wenig vorstellen, wie mich über Essenstrends auszutauschen ...
Und dann, als ich schon dachte, es würde nie was mit meiner Nische, hatte ich ein augenöffnendes Gespräch mit einer erfahrenen Coachin (an dieser Stelle vielen Dank noch mal, liebe Thea Döhler!). Ich stellte erstaunt fest, dass ich schon seit langem hochspezialisiert war: zwar nicht auf ein bestimmtes Fachgebiet, aber auf eine Textsorte, nämlich Werbetexte.
Transkreation war schon lange meine kleine, feine Nische. Dafür brannte – und brenne – ich auch. Werbesprache fasziniert mich. Diese unendlichen Möglichkeiten mit der Sprache zu spielen, um die Leser dazu zu verführen, etwas anzuschauen, auszuprobieren, auszuwählen ... und das alles mit Worten.
Ich durchforste ständig Zeitschriften, Newsletter und Werbeanzeigen auf Spanisch und halte immer Ausschau nach neuen Trends. Schau mal! Hier wird gesiezt, da geduzt. Dieser Anglizismus taucht jetzt überall auf. Was für ein schöner Ausdruck! Der kommt auch auf meine Liste …
Und zurück zum Stichwort „Experten“: Wenn ich mich mit jemandem aus der Werbebranche unterhalte, fühle ich mich wohl. Wenn ich um ein Briefing bitte und danach meine Überlegungen zu der richtigen Anrede und der richtigen Tonalität auf Spanisch erläutere … Das sind Gespräche auf Augenhöhe. Und (auch schön!) um meine Expertise zu zeigen, muss ich keine Messen abklappern. Es geht auch mit der eigenen Webpräsenz, am Telefon oder per E-Mail.
Es hat lange gebraucht, bis ich verstanden habe, was die ganze Zeit mein größter Fehler war (wer erkennt sich wieder?): Was andere können, erscheint dir irgendwie immer schwieriger, wertvoller, erstrebenswerter ... und was du kannst, könnte eigentlich jeder … Schnell und gründlich zu recherchieren ist (mit der richtigen Methode) ja auch kein Hexenwerk … Schön formulieren geht doch immer (wenn man nur lange genug an den Sätzen feilt) … Ist man wirklich kreativ, wenn man sich dafür jedes Mal den Kopf ordentlich zerbrechen muss?
Es ist schon ärgerlich, dass ich so lange gebraucht habe, um mir all dessen bewusst zu werden, wo es doch so offensichtlich ist. Aber wie sagt man so schön? Im Nachhinein ist man immer schlauer.
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Und? Wie sieht es bei dir aus? Hast du schon ein kleines feines Fachgebiet für dich gefunden? Oder bist du noch auf Nischensuche? Oder ist das Gegenteil bei dir der Fall und du kannst die Worte Nische und Neupositionierung nicht mehr hören? Bist du überzeugt, dass du als Generalist für die Zukunft eh viel besser aufgestellt bist? Auf deine Meinung und deine Erfahrungen bin ich sehr gespannt!
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PS: Dieser Artikel ist ursprünglich in leicht geänderter Form in der Ausgabe 1/20 des MDÜs, der Fachzeitschrift meines Übersetzerverbands, erschienen. Hier kannst du ihn als PDF sehr schick formatiert herunterladen und hier kannst du das MDÜ abonnieren.